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Tante Therese – was wir von ihr lernen können

Eine eiskalte Klammer umfasst das Herz von Dave Carroll : „Guck mal, die werfen mit Gitarren“, ruft die Frau hinter ihm beim Aussteigen aus dem United-Airlines-Flug in Chicago. Carroll ahnt: Es ist seine. Oder die eines der anderen Mitglieder der Country-Band „Sons of Maxwell“.

In der Tat: Eine 3.500 Dollar teure Taylor-Gitarre geht zu Bruch. Doch die Fluglinie mag sich der Sache nicht annehmen: Ein Jahr lang schlagen sich die Musiker mit den verschiedenen Customer-Care-Abteilungen von United herum. Dann das endgültige Urteil: Es gibt kein Geld.
Zurück bleiben vier verärgerte Ex-Kunden, jeder von ihnen spricht – sagen die Marketingtheoretiker –  mit einem Dutzend anderer Menschen über die Geschichte. Für einen Konzern wie United Airlines ist das ein mehr als überschaubarer Schaden.
Heute gibt es Youtube. Die Sons of Maxwell schreiben einen Song. Titel: „United Breaks Guitars„. Auszug: „Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich mit jemand anders geflogen. Oder hätte das Auto genommen. Denn United macht Gitarren kaputt.“ Und dabei gehe es ihm nicht ums Geld: „Steht zu Eurem Fehler. Eure Haltung muss sich ändern.“
Innerhalb einer Woche wird der Clip 2,8 Millionen Mal gesehen und 14.000-mal kommentiert. Bis heute sind es fast 9 Millionen Abrufe geworden. Und mit einem mal spricht United von einem „Missverständnis“ – natürlich werde der Schaden erstattet.
Was wohl meine Tante Therese zum Verhalten von United gesagt hätte?
Sie ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen. Eine rundliche Frau hinter einem Thresen, umgeben von Lebensmitteln und Haushaltswaren. Therese betrieb einen kleinen Laden im westmünsterländischen Reken-Maria Veen. Zur besseren Einordnung: Der nächst größere Ort heißt Klein-Reken.
Ihr Geschäft war der Dreh- und Angelpunkt für die umliegenden Bauernhöfe. Doch hier tauschten Kunden nicht nur Geld gegen Waren. Therese kannte jeden und konnte deshalb zielgenau Produkte empfehlen. War es doch nicht recht, wurde die Ware zurückgenommen – kein Thema. Noch dazu war der Laden ein Karussell für Kommunikation: Hier erfuhr der Bauer von nebenan zuerst, dass seine Tochter jetzt was laufen hatte mit dem Junior zwei Höfe weiter.
Geworfen wurde hier nichts, erst recht keine teuren Gegenstände. Und selbst wenn Therese fremder Leute Besitz zerbrochen wäre – sie hätte ihn mit rührenden Worten und einem Pralinen-Karton ersetzt.
Tante Therese ist vor langen Jahren gestorben, ihr Geschäft existiert nicht mehr. Und doch ist sie das große Vorbild für Unternehmen im Zeitalter des Web: Diese Nähe zu Kunden, die Dienstleistungsorientierung – all das bringt ausgerechnet das Internet zurück: Dank Social Media-Angeboten wie Facebook und Twitter können sogar Großunternehmen eins zu eins mit Kunden reden, ohne dass es sie überfordert.
Gleichzeitig fordern die Verbraucher genau das ein. Denn jene Generation, die das Internet vorantreibt, die 20- bis 40-Jährigen sind eine besondere Spezies. Ihre Vertreter sind als erste groß geworden mit Computern, vom Videospiel Pong über Atari VCS und Commodore 64 bis zum PC. Sie waren auch die ersten, die sich in Werbung verliebten: Denn die Ästhetik der Musikvideos auf MTV sprang über auf TV- und Kino-Reklame. Mit einem Mal war Werbung cool und unterhaltsam und bunt und verrückt.
Dann die Ernüchterung: Aus dem Handyvertrag kommt man nicht mehr heraus, der Bankberater schwatzt einem halbseidene Produkte auf, das Zeitschriften-Abo beschert einem Anrufe von zweifelhaften Glückspielanbietern – schließlich sind Verlage vorne mit dabei im Adressdatenhandel.
Wer sich darüber beschweren will, erreicht nicht die Unternehmen selbst sondern Call-Center Dienstleister, deren mies bezahlte Mitarbeiter anhand eines vorgefertigten Ablaufplans versuchen, den lästigen Kunden möglichst schnell von der Leitung zu bekommen.
Auftritt Social Media.
Via Internet können Kunden sich nun öffentlich Luft verschaffen, sich gegenseitig Rat geben. Der Mit-Verbraucher wird zum Techniktester, Gastro-Kritiker und Theater-Rezensent. Zu einem vertrauenswürdigeren Techniktester, Gastro-Kritiker und Theater-Rezensent als jene, die damit hauptberuflich ihr Geld verdienen – denn bei denen weiß inzwischen niemand mehr, ob Chefredakteure, Sponsoren oder Hersteller sie beeinflussen.
Social Media ist der Gegenentwurf zu Werbung, PR und der dramatisch sinkenden Qualität von Zeitungen und Zeitschriften. Der Ärger über ein kaputtes Instrument erreicht heute die ganze Welt. 732 Millionen Menschen nutzen Social Networks, Facebook wäre nach Zahl der Mitglieder die drittstärkste Nation der Welt. Jeden Tag werden 50 Mill. Twitter-Nachrichten geschrieben und während Sie diesen Text lesen werden über 200 Stunden Bewegtbild bei Youtube hochgeladen. Alles Teenager? Denkste. Das Durchschnittsalter bei Facebook beträgt 33, das am schnellsten wachsende Segment: Frauen zwischen 55- bis 65-Jährig.
Hätte es zu Tante Thereses Zeiten schon Facebook gegeben: Auf ihrer Fan-Seite wäre kräftig was los gewesen. Vielleicht hätte sie sogar ein Blog gestartet. So wie Gary Vaynerchuck, dessen Web-Videoshow „Wine Library TV“ bis zu 25.000 Menschen pro Folge anlockt. Das Marketing wirkt: Vaynerchuck machte aus dem kleinen Spirituosenladen seines Vaters den größten Online-Wein-Discounter Nordamerikas
Social Media bringt eine alte Weisheit wieder ans Tageslicht: Noch noch nie konnte sich ein Unternehmen leisten, nicht dort zu sein, wo seine Kunden sind – und heute sind sie im Web. Ein Drittel aller Weblog-Artikel handeln von Marken. Und für manchen Marketeer ist es ein Augen öffnendes Erlebnis, gibt er den Namen seiner Produkte einfach mal in die Twitter-Suche ein.
Doch tun sich viele Unternehmen schwer, in die digitale Konversation einzusteigen. Es ist die Angst vor menschlicher Kommunikation: Firmen reden nicht wie Menschen. Intern ersetzen E-Mails das Gespräch, extern ist Werbung nur auf Sendung ausgerichtet. Die Konsumenten haben sich längst abgewendet und lechzen nach Alternativen. Oder wie der Blogger und Cartoonist Hugh McLeod meint: „Wenn du mit Leuten reden würdest, wie die Werbung mit Leuten redet, würden sie dir eine reinhauen.“
Ausgerechnet Technik eröffnet nun die Chance, die Tugenden meiner Tante Therese zurückzubringen. Zappos macht es vor: Der amerikanische Online-Schuhhandel übernimmt die kompletten Versandkosten, Kunden können Ware ohne Angabe von Gründen zurückgeben. Vor allem: 24 Stunden täglich, 365 Tage im Jahr durchforstet ein Team das Internet nach Lob und Kritik von Zappos-Kunden – und reagiert darauf. Erfolg: über eine Millarde Dollar Umsatz und schwarze Zahlen.
Sind die Kommunikationskanäle einmal aufgebaut, ist noch viel mehr möglich: Social Media bedeutet auch das Ende von Fokusgruppen. Dell und Starbucks bitten ihre Kunden auf Plattformen um Verbesserungsvorschläge. Diese Ideen werden dann von Mitarbeitern in das Unternehmen getragen, regelmäßig erhält die Community Berichte, was einzelne Abteilungen zu den Vorschlägen setzen. Am Ende bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird eine Idee umgesetzt – oder detailliert begründet abgelehnt. Über 50 Ideen setzte allein Starbucks schon um, bei Dell waren es kaum weniger. Selbst Laptops mit Linux-Betriebssystem gibt es nun, etwas was bei Dell lange unmöglich schien.
Würde Tante Therese von dieser neuen Macht der Kunden hören, sie nähme es wohl westfälisch-gelassen. Und dann mit jenem Akzent, der klingt als kaue man an einem Handtuch, sagen: „Siehsse, hab ich dir doch immer gesacht, dass man das so macht.“

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Kommentare


Die digitalen Technik-Trends: Social Media im Herzen 15. September 2010 um 11:09

[…] Social Media bringt ganz altes Marketing zurück, Marketing nach der schon verstaubt erscheinenden Definition Heribert Mefferts: Marketing ist marktorientierte Unternehmensführung. Und Social Media ist die Essenz dieses Marketing. Der Wunsch des Kunden rückt wieder in den Mittelpunkt so wie damals im Laden meiner Tante Therese im tiefen Westmünsterland. […]

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Daumen hoch für Facebooks 30. September 2010 um 10:35

[…] als die Filterung durch eine anonyme Marke. Das ist nicht neu, wir haben es nur ein wenig vergessen. Social Media bringt dieses Denken zurück. Und das bei Produkten wie bei Nachrichten. Auch die wurden schon immer mit Empfehlung weiter […]

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Kiehl’s: Social Media ohne Internet 19. Oktober 2010 um 17:44

[…] Media, behaupte ich, wird Unternehmen verändern. Und zwar im Sinn meiner verstorbenen Tante Therese und ihrem kleinen Laden im westlichen Münsterland. Manchmal ist dafür nicht einmal das Internet […]

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SXSW Day IV: Saal-Rocker 15. März 2011 um 11:48

[…] besser auf 2012 vorbereitet als jeder Konzern.” Was ja auch meine These in Zusammenhang mit meiner Tante Therese ist. “Große Unternehmen müssen sich die DNA der kleinen […]

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Marketing2Conference: Wenn Ramon rockt 30. März 2011 um 18:41

[…] wurde. DeLeon ist ebenso ein Vertreter des gelungenen Social-Media-Marketing wie einst meine Tante Therese. Nur: Er hat eben tatsächlich das Internet als Hebel um Kunden zu gewinnen. Da tweetet jemand, […]

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